Mittelmeer – ja, bitte
JOURNAL 2022_16.
Wir besuchen Marseille im September. Es wird höchste Zeit. An einem kühlen Morgen verlassen wir das bereits herbstliche Paris und sind gespannt auf die zweitgrößte französische Stadt. Besonders unfranzösisch soll sie sein. Einstieg am Gare de Lyon, nur drei Stunden später und rund 800 km weiter südlich erreichen wir den großzügigen und stets quirligen Bahnhof Saint-Charles. Mit nur einem Halt bis Avignon und Hochgeschwindigkeit ans Mittelmeer.
Et voilà
Ein erster Blick auf das Meer und wir verstehen auf Anhieb, dass sich viele Pariser, die es sich leisten konnten, während der Pandemie einen Zweitwohnsitz in der sonnigen Hafenstadt am Mittelmeer gesucht haben. Wer aus dem Bahnhof auf die dem Meer zugewandte Terrasse ins Freie tritt, genießt einen Postkartenblick auf die Basilika Notre-Dame de la Garde. Sie thront auf einem 150 Meter hohen Kalkfelsen über der Stadt. Auf den vielen Wegen durch die Stadt entdecken wir sie immer wieder. Zwischen engen Gassen ragt sie empor und sicher haben wir mehr als ein Dutzend Fotos von der La Bonne Mère, wie sie auch genannt wird, gemacht.
Mehr Marseille bitte!
Ob Marseille unfranzösisch ist? Darüber fällen wir kein Urteil, aber diese Stadt passt in keine Schublade. Überraschungen finden sich an jeder Ecke. So zahlreich, dass wir uns nach nur einem Tag und vielen Begegnungen, unausgesprochen einig sind, dass zwei Tage dieser Stadt nicht gerecht werden. Jedes Viertel hat seinen eigenen Charme. Kultur, Konsum, Vergnügen und Dekadenz finden sich auf einem Areal, das bequem zu Fuss zu durchkreuzen ist. Marseille erlebte in der 60ern einen starken Zuzug algerischer Franzosen. So prägen eine Vielzahl algerischer und tunesischer Restaurants und Bistros das Stadtbild.
Zeitloses Miteinander
Fast hätten wir die Altstadt Le Panier übersehen. Sie befindet sich auf einem hügeligen Weg zwischen dem modernen neuen Hafen mit seinem weit sichtbaren und 150 Meter hohen Tour CMA CGM und dem alten Hafen. In dem angrenzenden, windgeschützten Hafenbecken liegen und schaukeln hunderte Segelboote. Ganz in der Nähe sind die Flaniermeilen der Noaille und das lebendige Szeneviertel, die Baille.
Gut vernetzt – à la plage
Wer etwas weiter vom Stadtzentrum untergebracht ist, hat die Wahl zwischen einem modernen Netz aus U-Bahn, Bus und Tram. Wir empfehlen unbedingt auch einen Ausflug zu einem der Stadtstrände, die entlang der Küstenstraße regelmäßig von Bussen angefahren werden.
Unité d'Habitation
Zur Realität gehört, dass in Marseille, speziell in den Vororten, eine hohe Kriminalität und soziale Ungleichheiten zum Alltag gehören. Als Tourist bekommt man in der Innenstadt von alldem kaum etwas mit. Dabei war Marseille bereits in den späten 1940ern eine Ort für visionären Wohnungsbau. Le Corbusier verwirklichte hier die erste seiner sieben Wohnmaschinen. Seine Idee einer vertikalen Stadt, die die Wohnungsnot der Nachkriegszeit lindern und gleichzeitig seinen Bewohnerinnen Lebensqualität bieten sollte. Wir empfehlen einen Besuch der Dachterrasse, von der aus man sichvis-à-vis mit derLa Bonne Mère befindet. Corbusiers Anliegen ist aktueller denn je, so hatte er bereits damals die „Manie der Einfamilienhäuser“ kritisiert. Heute ist die unverhältnismäßige Versiegelung durch Einfamilienhäuser ein viel diskutiertes ökologisches Problem.
A bientôt – auf jeden Fall!
Wir kommen wieder, denn hier lassen sich auf engstem Raum so viele unterschiedliche Eindrücke sammeln, wie wir es selten erlebt haben. Marseille, wenn vielleicht auch nicht französisch, so ist sie allemal unterschätzt und weitaus besuchenswerter als ihr Ruf.